Geschichte des Orient
Mythos
Es gibt so viele Geschichten über das Hotel Orient, man könnte meinen, das ganze Haus sei bloß ein Gerücht, eine Sage, Mythos irgendwo zwischen Atlantis und Shangri-La, verschollen im Bermudadreieck. Doch steht es nach wie vor fest am Tiefen Graben 30, am selben Platz seit 300 Jahren.
Der Schriftsteller Marcel Proust beschrieb die Menschen als Wesen, die neben ihrem sehr beschränkten Anteil an Raum, einen ungleich ausgedehnteren Platz in der Zeit einnehmen. Je älter die Menschen, desto länger ihre unsichtbaren Stelzen, die in die Vergangenheit hinabreichen.
Illustre Gäste
In dieser Betrachtungsweise erscheinen uns die sichtbaren vier Stockwerke des Hotel Orient als Krönung eines immensen Wolkenkratzers, der durch die Jahrhunderte wächst, tausende Etagen umfasst, hunderttausende Gesichter.
Manche davon berühmter als andere: So soll bereits Kaiser Franz Josef zu den illustren Gästen des Hauses gezählt haben und es war wohl auch kein Zufall, dass ausgerechnet der an Mysterien reiche Film »Der Dritte Mann« teilweise im Hotel Orient gedreht wurde.
Kuriositätenkabinett
Gut möglich, dass Graham Greene, der das Drehbuch zum Film schrieb, John Irving auf Wiens einzigartiges Stundenhotel aufmerksam machte. »Das Hotel New Hampshire« aus dem gleichnamigen Roman hat einige Ähnlichkeit mit dem damaligen Hotel Orient: Während das erfundene Hotel »ein Kuriositätenkabinett mit Bären, Huren und Anarchisten« war, beherbergte das Hotel Orient bis in die 1990er hinein gleichzeitig tageweise reguläre Touristen, stundenweise Paare sowie monatsweise Artisten und Tänzerinnen aus dem Moulin Rouge. Messerwerfer, Dichter, Musiker und Lebenskünstler trafen sich nachts mit Professoren, Diplomaten und Baronen an der Hotel Bar.
Wolf Wondratschek schrieb hier Gedichte, darunter eines mit dem Titel »Hotel Orient«. Ernst Molden verfasste Mitte der 1990 im Orient seinen Roman »Die Krokodilsdame«. Die jungen »Ärzte« feierten hier ebenso wie Udo Lindenberg, Udo Jürgens und, so erzählt man sich, auch Udo Proksch.
In der Gegenwart angekommen
Hin und wieder macht das Orient eine Ausnahme zum ansonsten strikten Bildverbot: Für intime Schnitzler Aufführungen, manche Tatort-Folge oder exklusive Fotoshootings.
Einer der jüngsten Einträge im Gästebuch bestätigt, dass das Hotel Orient mitsamt seiner Geschichte gut in der Gegenwart angekommen ist: Joseph Corré, der Mitbegründer des Dessous-Labels Agent Provocateur, bedankt sich für einen Aufenthalt im »besten Hotel der Welt«.